« Klaus Theweleits Männerphantasien zwischen ‘Theorieabenteuerroman’ und ghost-modernem Epos », autotraduction de l’auteur en allemand et révision par Hilda Inderwildi

Traduit de :
« Fantasmâlgories de Klaus Theweleit : entre ‘roman d’aventure théorique’ et épopée ghost-moderne », version originale en français

Plan

Texte

Eröffnung

Werfe ich erneut einen Blick auf den Titel meines Beitrags, stelle ich fest, dass ich mit dem Begriff „Epos“ etwas leichtfertig umgegangen bin. Was den „Theorieabenteuerroman“ betrifft, bleibe ich jedoch dabei und komme später noch darauf zurück.

Inwiefern ist „Epos“ problematisch? Mit dieser Frage komme ich zum Kern des Themas, und zwar anhand eines Textes, den ich übrigens nachfolgend mehrfach zitieren werde: das bis dato nicht ins Frz. übersetzte „Nachwort“ zur 2019 erschienenen Neuauflage der „Männerphantasien“.1

Zunächst aber ein kleiner Disclaimer: Ich werde in diesem Beitrag viel zitieren. Anstatt zu paraphrasieren, ziehe ich es vor, über Texte aus erster Hand einen Vorgeschmack zu geben. Um Bruno Tackels über die Kunst des Zitats bei Walter Benjamin, einem der vielen Geister, die in Theweleits Schreiben herumspuken, zu zitieren:

Die Zitate treten in ein Reich ein, das keine Autoren mehr hat, sondern nur noch Leser.2

Und aus diesem Anlass werde ich versuchen, Textfragmente von, um & angelehnt an Theweleit zu samplen. Theweleit selbst tut übrigens nichts anderes.

Zurück zum Epos: Theweleits Arbeit oder vielmehr seine „Kunstproduktion“ – wie er sie selbst nennt – steht dem Epos, der Feier von Helden und Heldentaten, diametral gegenüber. Es ist vielmehr dessen Zerlegung bzw. Dekonstruktion (und damit die Dekonstruktion von Mythos, Legende und Geschichte der Sieger). Noch ein Zitat von Benjamin, das Theweleit nicht widerlegen würde:

Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. […] Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. […] Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist.3

Das Epos ist eine Siegergeschichte und wird in Versen und Reimen erzählt. Diesmal in Theweleits Worten:

Von allem Anfang an ist »unsere Kultur« […] mit angewandter Waffengewalt verkoppelt; so auch das literarische Schreiben; um nicht zu sagen verzahnt. Ineinander verbissen. Am Anfang ist Homers Ilias. An diesem Anfang.
Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen zwei Großhelden ist der Körper einer im Verlauf von Kampfhandlungen gefangenen Frau aus einem von den Griechen unterworfenen Volk – Körper einer »Barbarin«, einer besonders schönen. Die Sieger-Herren Agamemnon und Achill streiten darüber, wer von ihnen den höheren Rechtsanspruch besitzt, den schönen Körper der Briseis exklusiv beschlafen zu dürfen. Dieser Streit – der die Eroberung von Troia entscheidend behindert – kostet Zigtausende das Leben; so der Stoff dieses bedeutendsten aller antiken Klopperbücher. Hahnenkampf zweier rivalisierender Obersoldaten, gewalttätiger Brünstlinge, die lieber die Welt in Stücke hauen und in Stücke hauen lassen und sich selbst dazu, statt auf das Fickrecht über den Körper einer eroberten Frau aus einer kriegerisch unterworfenen Population zu verzichten. Machtausübung als Lebenszweck; ausgemessen mit dem männlich-aristokratischen Glied – (dauererigiert?).
Es sind Kriegs- und Kolonialgeschichten – ausgetragen großenteils über weibliche Körper –, die zuerst aufgeschrieben werden mit der neuen Technologie des phonetischen griechischen Vokalalphabets: heroische Männertaten, Angebereien, Aufschneidereien, Selbstrechtfertigungen, Denunziationen, Rivalitäten, Eroberungen, Piratisches – unter der (besonders raffinierten) Einarbeitung von Götterbeteiligungen an den laufenden Männerhändeln. Mit immer Blutwurst am Ende auf den sich biegenden Tafeln unserer Frühkultur: Freikorps-Literatur unserer Morgenröte. Nur schöner gesungen als die schäbigen Dreckstexte der grölenden deutschen Soldatenhorden nach
WKI. Aber als Texte des Nachkriegs von Weltkrieg Null können die homerischen bezeichnet werden. Gibt es ein Wort, das besser taugen würde als Transparent über »Homers« Ilias als Männerphantasien?
Am Anfang waren Männerphantasien. Am Anfang »unseres« Schreibens.
4

Ein Gegenepos also, dessen Gespenst der Besiegten uns in Europa & anderswo unentwegt verfolgt.

Elfriede Jelinek bezeichnete das Buch als einen »unerreichten« »Monolithen«. Man kann es wagen, das Buch als »unerreicht« zu bezeichnen. Angesichts »Monolith« sind jedoch Zweifel anzumelden: „Männerphantasien“ ist alles andere als monolithisch, sogar vielmehr das Gegenteil davon. Es ist ein vielseitiges und flüssiges Buch. Littell trifft es eher, wenn er in „Das Trockene und das Feuchte“ festhält, dass es »unmöglich ist, dieses brillante, polymorphe, schwer fassbare Buch hier zusammenzufassen«.5 Aber muss man unbedingt versuchen, es zusammenzufassen? Anstatt die Herausforderung anzunehmen, das Buch in knapp einer Stunde zusammenzufassen6, gebe ich mich dem Bestreben hin, die Positivität dieser Unfassbarkeit aufzuzeigen und sie als einen wesentlichen Bestandteil des Buches auszuweisen: Mit anderen Worten, nicht ein irgend geartetes dahinter steckendes System kenntlich zu machen, sondern das, wie Klaus Theweleit es gerne nennt, aus Text, Bildern (und Tönen) gekonnt zusammengesetzte »Kunstprodukt«.

Ich möchte also weder eine Lesekarte noch eine Rezension erstellen, sondern eine Art translator's cut, die weniger die Konturen zeigt als die (Flucht)Linien, über die hinweg uns das Buch immer wieder entgleitet. Das Buch lässt sich nicht erklären, man muss es erleben. »Have you ever been experienced? Well, I have.«

Metamorphosen des »Ich«

Was ist bzw. sind „Männerphantasien“? Oder besser gesagt, wer sind sie? »Wer«, weil man das Werk nicht vom Mann trennen kann. Schon in der „Vorbemerkung“, einer Art Vorwort zu den „Männerphantasien“ (das ich in die französische Ausgabe leider nicht aufgenommen habe, aber das ist eine andere Geschichte), erzählt Klaus Theweleit:

Über den Hindenburgdamm, der auf dem Umschlagbild nicht zu sehen ist7, fahren die Züge von der Insel Sylt zum schleswig-holsteinischen Festland, und umgekehrt.
Das Postkartenfoto vom Zug auf dem Damm bei Hochwasser habe ich beim Ansehen von Fotoalben meiner Mutter gefunden, im Frühjahr dieses Jahres. Sie war von einem Schlaganfall bewusstlos und schon auf der Reise, die keine ist. Wenn jemand gestorben ist, schaut man seine Fotoalben an und hört die Stimmen, die zu den Bildern gehörten.
Käte, geb. Minuth, elftes Kind eines Schneiders aus Cranz, wohin die Leute aus Königsberg an die Ostsee kamen, 1901–1977, hätte gern noch den Abschluss dieser (mit einem Promotionsdiplom verbundenen) Arbeit erlebt und ihren Wunsch, hundert Jahre alt zu werden, erfüllt gesehen, den sie allerdings in ihren letzten Jahren seltener äußerte.
Die Postkarte mit dem Foto lag lose im Album mit den Bildern der engsten Familie. Hindenburg, einer der Helden meiner frühesten Jugend, hatte über dem Schreibtisch meines Vaters, des Eisenbahners, gehangen, versehen mit einer faksimilierten Unterschrift, die ich lange für echt gehalten habe. Paul von Hindenburg, der Generalfeldmarschall, hat für meinen Vater ein Bild unterschrieben, das gefiel mir. Außer Hindenburg (der selber ein Damm war, Soldatendamm von Reich zu Reich durch die roten Fluten der »Republik« von Weimar) hingen Bismarck und Friedrich der Große da (wo vorher das Führerbild gehangen haben muss).
Es war 1955, als mein Vater meiner Schwester Helga und mir stolz den Hindenburgdamm vorführte. Nicht, als wäre er sein Eigentum, aber als wäre er selber die EISENBAHN, in der wir saßen und unter die der Damm gehörte. Ich war 13 und es war das einzige Mal, dass ich mich erinnere, mit meinem Vater am Meer gewesen zu sein. Ins Wasser auf Sylt ging er nicht. Es war ihm zu stürmisch und er war auch »kein großer Freund davon«.
Als der unlegalisierte Sohn eines ostpreußischen Hofbesitzers von einer Tante aufgezogen, war mein Vater als Vater immer sehr für eine richtige Familie. Aber zuallererst war er Eisenbahner, mit Leib und Seele, wie er sagte, und dann erst Mensch. Er war auch ein guter Mensch und ein ziemlich guter Faschist. Die Schläge, die er reichlich und brutal verteilte im Rahmen des Üblichen und in der guten Absicht des Affekts, waren die ersten Belehrungen, die mir eines Tages als Belehrungen über den Faschismus bewusst aufgegangen sind. Die Zwiespältigkeit meiner Mutter, die fand, dass so etwas sein musste, es aber milderte, die zweiten.
Er, der ehrliche Beamte, schummelte nicht einmal beim Kartenspielen […] und er ging, ein schließlich enttäuschter Beamter […] »am Alkohol« zu Grunde und an der deutschen Geschichte. Bruno, 1901–1966.
[…]
Sie sind für das kommende Reich, das irgendwie nicht kam, geboren worden, meine älteren Geschwister. Reinhold – Siegfried – Brunhilde – Günter - - - - - Nibelungen, 1929 –1935. Die beiden Nachkömmlinge bekamen die Namen der Niederlage: Klaus und Helga, 1942 und 1944 - - - - - Stalingradkinder.
Aus Stalingrad kam Elvis, das Kino und das übrige Amerika von Leinwänden und aus Lautsprechern über den großen Teich.
Über den Damm, der auf dem Bild nicht zu sehen ist, ist auch Monika Kubale an Land gekommen, als sie von der Insel, auf der sie 18 Jahre gelebt hatte, in die Stadt fuhr, in die auch mich die Universität gelockt hatte: Kiel, wie das, was die Schiffe unten haben.
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Ein Paradebeispiel theweleitscher »Verdichtung« im Sinne Freuds und ein wenig auch der »Dichtung«. Da steckt schon alles drin, oder zumindest fast alles: die persönliche, familiäre, deutsche Geschichte; die Topologie trocken vs. nass, Land vs. Meer, Fluten vs. Damm, flüssig vs. fest; das Verschmelzen von Zeit/Raum, Fiktion/Realität: Stalingrad & Elvis, Nibelungen & Geschwister für das kommende Reich; der Einfluss von Musik & Film (die Passage geht den beiden Zitaten im Vorspann von Frida Grafe – an die diese Familienbeschwörung in einer Konstellation zwischen Psychoanalyse, Zug und Film direkt anknüpft – & Jimi Hendrix voraus). Nun, man muss die nachfolgenden 1000 Seiten gelesen haben, um dessen Ausmaß zu erahnen, aber immerhin …

Es ist ein »Traumbuch«, wie Freud seine Traumdeutung nannte, in dem das Ich vielleicht weniger hervortritt als das Unbewusste, als die Wunschproduktion, die Klaus Theweleit in den Mittelpunkt seines Schreibens zu stellen versucht. Darin unterscheidet sich sein Programm von jenem Freuds:

So kann man die Formel des späten Freud: »Wo Es war, soll Ich werden« verstehen als Programm der Eliminierung des Maschinellen und des Fließenden aus den Produktionen des menschlichen Unbewussten: Stilllegung und Trockenlegung. Das Zweite hat er sogar wörtlich formuliert, als er den Prozess der Ich-Bildung, die Kulturarbeit, mit der Trockenlegung der Zuydersee verglich. Die mit der Topik von Ich/Es/Über-Ich beschreibbare Person wäre somit konzipiert als trockenes Grab für die Ströme und die Wunschmaschinen. Und hier soll eine Vermutung angeschlossen werden, deren Haltbarkeit sich im Folgenden beweisen muss: dass die konkrete Form des Kampfes gegen die fließend/maschinelle Produktionskraft des Unbewussten als Kampf gegen die Frauen, als Kampf gegen die weibliche Sexualität geführt wurde (und wird).9

Wir werden auf diese Frage des »Kampfes gegen die weibliche Sexualität« noch zurückkommen. Klaus Theweleit fährt an etwas späterer Stelle fort:

Nie will der Wunsch in den angeführten Texten zugehörig sein einem »Ich« mit bestimmten Eigenschaften, von bestimmter Ganzheit, das den Namen Neruda, Césaire oder Miller führt; er will auch nicht lediglich identisch sein mit einem Prozess, der »Russische Revolution« heißt, er will mehr: »verspielte Welle« sein, Brandung, Fluss, Element, in dem das Leben sich bewegt.
Wenn die zitierten Sätze so etwas wie ein gemeinsames Programm hätten, könnte es in Umkehrung der Freudschen Forderung »Wo Ich war, soll Es werden« lauten, oder »Wo Dämme waren, soll Fluß werden«.
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Dies ist das genaue Gegenteil der Hindenburgdamm-EISENBAHN-Vater-Konstruktion: Meer-werden, Fluten-werden, loslassen und sein Ich und seine vermeintliche Identität von der Strömung des Schreibens mitreißen lassen. Das ist auch das Programm der „Männerphantasien“: zu zeigen, dass das Flußbett, das den Strom einengt, gewalttätig ist, und es zu überfluten. Und das Buch ist das Abenteuer der Metamorphosen dieses individuellen wie kollektiven Ichs.

»Theorieabenteuerroman«

Der Ausdruck »Theorieabenteuerroman« stammt von Sigrid Löffler, jener bekannten deutschen Literaturkritikerin, die im September letzten Jahres die Laudatio zur Verleihung des Adorno-Preises an Theweleit gehalten hat. Ihre Laudatio schloss sie wie folgt:

Mit anderen Worten: Ein imposantes Œuvre wird heute hier ausgezeichnet, das schwierig zu etikettieren ist. Womit haben wir es hier zu tun? Mit einem Psycho-Mytho-Historien-Epos? Einem Theorieabenteuerroman? Jedenfalls mit einem Werk ohnegleichen, einem uferlosen, sich selbst entgrenzenden und womöglich unabschließbaren Projekt, einem Work in progress über Männergewalt und Frauenleiber, Kunstmythen und Machtmythen.11

»Theorieabenteuerroman« – das ist mehr als ein leeres Wort. Als profunder Kenner Freuds weiß Klaus Theweleit, was die Psychoanalyse der Kunst verdankt. Er hat dies übrigens 2006 in einem Essay über die Geburt der Psychoanalyse um die Wende zum 20. Jh. festgehalten:

An die Stelle medizinischer Verfahren tritt in der Erfindung der Psychoanalyse im Zuge der Traumdeutung tatsächlich die Literatur; das Behandlungszimmer wird zur Bühne von Inszenierungen; in diesen stellt der Patient sich vor, sich aus, probiert sich wie auf einer Probe, darf alles sagen und probieren, weil es Theater-, Proben-Freiraum ist. Das ist das schließliche Geheimnis Freuds: Er hat alles versucht mit exakter Medizin […]; die Forschungen sind nicht weit, nicht praktikabel genug. Er hat es versucht mit Drogen: zu gefährlich, zu unkontrollierbar. Gibt Tote. Er hat es versucht mit genauester Geschichte: immer Vergewaltigungen; […] Er hat es probiert mit der Exaktheit von Zahlen; Zyklen der Psyche (wie Menstruationszyklen). Nebbich […]. Hypnose: Versuch materiell magnetischer Eingriffe in die Person. Nebbich, ergab mehr als einmal: Arme um den Hals. […]
Die Änderung des Settings – nicht mehr gegenüber, sondern hinter den Patienten sitzen – ist ein Ergebnis dieser Jahre. Der Augenkontakt muss weg, er verführt. Dahinter sitzen, gemeinsame Blickrichtung; auf die Bühne, auf die
Leinwand im Imaginären, auf der das alte Leben und das neue Leben laufen werden, wenn überhaupt etwas läuft. Das Geheimnis: mit voller Absicht ein Kunstverfahren, ein Spielverfahren an die Stelle der unzureichenden medizinischen gesetzt zu haben; im Wissen, die medizinischen, exakten bringen nicht hervor, was sie behaupten. Erst die Kunst bringt in gewisser Weise »Heilung«.12

Das Buch ist bei Theweleit jene Bühne, auf der das Ich im langen Prozess der Zivilisation von einem Abenteuer zum nächsten stolpert ( Norbert Elias’ Nähe ist stets spürbar).

Freud spricht in Bezug auf „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ von einem »psychoanalytischen Roman« und gibt zu, dass er

der Anziehung unterlegen [ist], die von diesem großen und rätselhaften Manne ausgeht, in dessen Wesen man mächtige triebhafte Leidenschaften zu verspüren glaubt, die sich doch nur so merkwürdig gedämpft äußern können.13

Und, um Edmundo Gómez Mango in einem Artikel über „Freud & die Fiktion“ zu zitieren: Weit davon entfernt,

die intensiven Emotionen, die der Untersuchungsgegenstand in ihm hervorruft, als Hindernis für die intellektuelle Forschung zu betrachten, verwandelt er sie im Gegenteil in einen starken Motor für die Untersuchung selbst.14

Ähnlich bezeichnete Freud sein Buch „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ eine Zeit lang als »historischen Roman«, ein Buch, in dem sich Freud stets auf dem Grat zwischen Legende und Geschichte bewegt – was nicht so weit weg von Klaus Theweleit ist.

Theweleit wiederum ist ein Sohn seiner Zeit und des „langen Sommers der Theorie“ (um auf den Titel eines großartigen Buches von Philip Felsch über, sehr knapp zusammengefasst, den Einfluss der French Theory in der BRD zurückzugreifen).

18 Jahre zurück in die Vergangenheit. Klaus Theweleit hält eine Rede für den Johann-Merck-Preis für „Essay und Literaturkritik“, den ihm die Stadt Darmstadt 2003 verliehen hat, und weist dabei auf die Schwierigkeit hin, seine »Kunstproduktion« einzuordnen:

Mir geht es mit dem Preis ein bißchen ähnlich, was die Idee der Preis-Umverteilung angeht15. Zwar gibt es Essaybände von mir, aber ob „Männerphantasien“, „Buch der Könige“16 oder „Pocahontas“ »Essays« sind, weiß ich nicht. Ich weiß aber auch nicht genau, was sie sonst wohl wären. Eine klare Autor-Figur, wie Rühmkorf den Lyriker, kann ich nicht anbieten als Preisträgeralternative. Schreibe ich historische Untersuchungen? Ja, aber im strengen Sinn: nein. Sie sind zu erzählerisch. Schreibe ich eine Art Romane? Manche sagen: schon eher; aber im strengen Sinn: nein. Sie bauen sich nicht um Handlungen; und sind auch zu wissenschaftlich. Als Wissenschaft aber nicht recht verortbar. Bis heute wissen Buchhändler nicht, wo sie die „Männerphantasien“ hinstellen sollen, zur Faschismustheorie, zur Genderforschung, zur Psychoanalyse, oder sonstwo. Ein Kritiker in der Zeit nannte meine umfangreicheren Sachen einem »Theorieromane«. Das kommt ihrer Anlage vielleicht näher. Aber dann sind sie ja auch noch Bücher, die in lang angelegten Bildersträngen sprechen. Manche Leser sehen eher eine Art geschriebenen Film in dem, was ich mache. Andere wieder betonen die Sounds, den Klang und den Fluß der Sprache. Eine Art kritischer Prosagesang; gewiß, das sollen die Texte auch sein. Einen bezeichnenden Ausdruck fand dies Zuordnungsdilemma in der Reaktion der Kritik auf das „Buch der Könige 2x + 2y“ 1995.17 Es wurde gleichzeitig plaziert auf den Bestenlisten für Sachbuch und für Belletristik; ein Teil der Kritiker hatte es als »schöne Literatur« gelesen; ein anderer als kunsttheoretische Untersuchung zum Thema Kunst und Macht.
Die Kritiker wissen es also auch nicht, welche Sorte Autor sie an mir haben. Mir wäre es lieb, man nähme dies als Indiz für das Überholte überkommener Autor-Klassifizierungen. Johann Heinrich Merck hat, so Rühmkorf, »ständig im Widerspruchsfeld zwischen Kunsttheorie und Kunstproduktion bewegt«; im Feld der »heimlichen dialektischen Verklammerungen von Produktion und Programmatik, Aufklärung und Ausdruck, Theorie und Darstellung.« Genau das warf Goethe ihm vor: daß er sich nicht klar für die Seite der Kunstproduktion entschiede. Während es für mich zu den Schreibvergnügen zählt, die Gegensatz-Paarbindungen solcher Widerspruchsfelder und deren heimliche Dialektiken hinfällig zu machen, Grenzziehungen wie die zwischen Sachbüchern und belletristischen Büchern also zum Verschwinden zu bringen. Kritik, Wissenschaft, schöne Literatur gehen bei avancierten Autoren seit längerem ineinander über. Ein schönes Beispiel dafür sind selbstverständlich die Arbeiten von Alexander Kluge; der dazu den Vorzug hat, Filme nicht nur zu schreiben, sondern auch zu machen.
Da ich also definitiv nicht weiß, wie jener Teil oder jene Teile von mir zu benennen wären, an die ich den Preis umadressieren könnte, bleibt mir nur der umgekehrte Weg, ihn im Namen aller meiner Autor-Partialitäten zu empfangen. Ich gebe also meiner Mehrfachfreude Ausdruck. […] Schließlich definiere ich mich im Alltag nicht als Konglomerat diverser Autorensorten, sondern als Mensch in Familien- und Freundesbeziehungen. Meine Frau liest und kritisiert alle meine Sachen, bevor sie erscheinen. Das heißt, sie verändert sie, aber nicht, indem sie sie tippt. Sie hat eigene berufliche Wege. Dafür geht unsere Art und Weise, zusammen zu leben, in die Schreibweise der Texte ein. Zum Auflösen festgefügter Schreibformen gehört eine Auflösung gesellschaftlicher Beziehungsmuster; so habe ich es jedenfalls immer empfunden. Dazu gehört auch die Veränderung der üblichen Beziehungsmuster von Autor und Verlag.
18

– und ich möchte noch hinzufügen: von Verlag & Übersetzer …

»Ich ist eine Menge anderer«, wenn man so will …

Wir springen noch einmal 18 Jahre weiter, diesmal nach vorne, zum 11. September 2021. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt thematisiert Klaus Theweleit in einer paradoxen und eher unerwarteten Laudatio auf Adorno erneut die Frage von Klassifizierungen und binären Kategorien:

Ich/Nicht-Ich, bewusst/unbewusst, Frau/Mann, Erwachsener/Kind, Barbar/Nicht-Barbar – Sprechen im Feld binärer Gegensätze, die unsere Kultur seit ca. 12.000 Jahren strukturieren; Binaritäten, aufgespannt zwischen Gott und Teufel, zwei Polen, die es im Realen nicht gibt; Spielkonstruktionen böser Machtspieler. Das wäre eine der letzten wünschenswerten Erkenntnisse dialektischen Denkens, daß nichts so sehr die friedliche Ausgeglichenheit menschlichen Lebens bedroht hat, als ausgedachte Konstruktionen von Gespenstern, die nicht existieren, Gott nicht, Teufel nicht, Heimat nicht, Nation nicht. Die alle so wenig real sind wie die Konstruktionen »zerstörerischer Weiblichkeit« – von denen auch das Buch „Dialektik der Aufklärung“ nicht gänzlich frei ist.
Ich sehe das
dialektische Denken selber an seine Grenzen kommen durch massive Verschiebungen im Wirklichkeitsfeld der menschlichen Körper. Wenn heute nicht mehr nur zwei Geschlechts-Identitäten für den beantragten Reisepass zur Auswahl stehen; und mehr als hundert davon, wenn das »Geschlecht« für eine Netzplattform »definiert« werden soll, dann ist das weder eine primär sexuelle Möglichkeit der Selbstdefinition; es ist auch nicht einfach die Auflösung der abendländischen Familienstrukturen, die es natürlich auch ist; es bedeutet vor allem die prinzipielle Möglichkeit der Auflösung der binären Denkstrukturen, die unser gesamtes Denken und Fühlen einengen um nicht zu sagen, einsperren. Ich spreche heute von einem bei uns vorliegenden »Segment-Ich«; (nachzulesen in Pocahontas Bd.3;).
Auflösung des binären Denkens: Wer fortfährt, die Welt nach richtig/falsch zu unterscheiden, d. h. die Welt zu vergewaltigen; wer sie einteilt nach weiß/farbig, nach phallisch/vaginal oder wie immer sie zweiteilt,
frevelt (um ein weiteres Lieblingswort Adornos nochmal zu verwenden) an der veränderten Materialität des Weltzustands und produziert damit: fortdauernde Unterdrückung und deren Ideologien.19

Weder Dialektik noch System also. Um diesen Aspekt kenntlich zu machen, lohnt sich ein Ausflug in die Archive des Jahres 1977, das Jahr der Erstveröffentlichung der „Männerphantasien“ in Deutschland: Rudolph Augstein, der ehemalige Speigel-Chefredakteur, der eine siebenseitige Rezension verfasste und den Autor der „Männerphantasien“ damit über Nacht berühmt machte, sagte über das Buch:

Theweleits fast immer aufschlußreiche, niemals langweilige, wenn auch selten schlüsselfertige Phantasien würde man nämlich mißverstehen, schätzte man in ihnen nur die intellektuelle Kurzweil. Dahinter steckt System.20

Wenn man weiß, wie wichtig das »System« in der Philosophie und erst recht in der deutschen Philosophie ist, handelt es sich bei alldem keineswegs um Willkür.

Doch genau das spricht ihm im selben Jahr Prof. Dr. Gerhard Kaiser ab, der damit am 16. September 1977 sein Veto gegen eine halbe akademischen Ratsstelle für Theweleit in der Neuen Abteilung des Deutschen Seminars an der Universität Freiburg rechtfertigt. Er spricht über Theweleits Dissertation, die den Stoff für „Männerphantasien“ liefert:

Eine im Umfang fast monströs zu nennende Dissertation entbehrt der methodischen Strenge und der Selbstkontrolle gegenüber einem wuchernden Assoziationsvermögen, das alles mit allem zu verbinden weiß und vom eigentlichen Thema in eine sozialpsychologische Geschichte Europas ausschweift – wobei schon das »eigentliche« dieses Themas ein ganzes Assoziationsknäuel ist.21

Während der eine glaubt, hinter dem Knäuel ein System zu erkennen, spricht der andere dem Knäuel ein solches System ab. Also: System oder nicht?

Meiner Meinung nach ist die Frage falsch gestellt. Beide gehen am »Eigentlichen« vorbei.

Theweleit spricht im „Die neuen Seiten“ betitelten Nachwort der deutschen Taschenbuchausgabe von 2000 eben von einer nicht nur »unakademischen«, sondern »explizit unphilosophischen, um nicht zu sagen antiphilosophischen« Machart des Buches.22 Im neuen Nachwort zur Neuauflage von 2019 ergänzt er:

Die Schreibweise des Buchs sucht nach einer Sprache, die die Verbindung zu lebendigen Körpern, dem eigenen und den Körpern der Anderen, nicht kappt […]. Was das Buch zuallererst entwickeln wollte, war ein anderer Ton; auch und gerade gegenüber der Dominanz der adornitischen Rechthaber-Währung aus der Bankenzentrale am Main.23

Das, was sowohl Augstein wie Kaiser entging, übersah eine Frau nicht: Gisela Stelly Augstein, die Frau des Erstgenannten, der selbiger es zu verdanken hat, überhaupt auf „Männerphantasien“ gestoßen zu sein. In einem Interview im Merkur erzählte Gisela Stelly Augstein kürzlich diese Anekdote (Rudolph Augstein soll den Artikel im Spiegel geschrieben haben, um mit dem Artikel seiner Frau für Die Zeit zu konkurrieren) und brachte damit auf den Punkt, was diese Männer nicht sehen wollen. Zur Entstehung der „Männerphantasien“ bekundet sie nämlich:

Es ging darum, ein verzweigtes Denken zu entwickeln. Damit kam eine ganz andere Form der Wahrnehmung, nämlich des Geflechts, des Flechtwerks, und der Verknüpfung ins Bewusstsein. Das überschnitt sich auch mit den Überlegungen zum weiblichen, eher assoziativen Denken, das von Theoretikerinnen der Frauenbewegung beschrieben wurde, die gerade Fahrt aufnahm. Das Flechten, Knüpfen, Verknüpfen und so weiter sind ja schon immer weibliche Formen des Produzierens gewesen. […] Das wurde als bedrohlich empfunden! In einem Kapitel analysiert Theweleit ja die Angst vor Dammbrüchen, vor Strömen, kurz die Angst des soldatischen Mannes, in einer chaotischen Masse unterzugehen. Dagegen wird über Jahrhunderte in der bürgerlichen Kultur ein Körperpanzer herausgebildet, der Stabilität verspricht, ein Körperpanzer gegen alles mit dem Weiblichen assoziierte. […] Ich denke, Theweleit wendet sich von abstrahierenden, kontrollierenden Darstellungsformen ab, denn er wollte sich ja von der beschriebenen Art der Machtausübung absetzen. Und das hat manchen Angst gemacht.24

Was Adorno betrifft, so zügelte Theweleit, wie gesagt, seinen Ton. In seiner Rede für den Adorno-Preis erzählt er, was er Adorno alles zu verdanken habe, angefangen bei dessen Kritik an Heideggers „Jargon der Eigentlichkeit“ und dem fragmentarischen Schreiben von „Minima moralia“, alles unter dem Vorzeichen der Umkehrung der Hegelschen Formel: »Das Ganze ist das Unwahre«.

Wenn ich mich selbst als »Philosophen auf Abwegen« bezeichne, dann in diesem Sinne: Meine Lektüre der „Männerphantasien“ hat mich aus dem Dickicht der »abstrahierenden, kontrollierenden Darstellungsformen« herausgeführt, eine Art theoretisches Coming-out. Aber ich habe dafür Zeit gebraucht, denn im Zuge meiner ersten Lektüre des Buches suchte ich zuerst nach dem »System dahinter«, bevor ich das assoziative Wuchern akzeptierte.

Wahrscheinlich bis Es durcharbeitet … Seitdem bin ich ein wenig mehr »experienced«.

Zurück zu Adorno & Theweleit. Es sollte nicht bis 2021 dauern, bis dieser jenem seinen Tribut zollt. So kritisch er auch gegenüber dem Vertreter der Frankfurter Schule sein mag, schließt er sich dessen Behauptung des Ganzen als das Unwahre an. Ganz am Ende von „Männerphantasien“, in den letzten Sätzen des Schlusswortes, heißt es:

Das Ganze ist die Gewalt, die nichts Halbes und Vereinzeltes leben lässt – (etwas für ganze Kerle) –, das Halbe und Vereinzelte aber sind die Menschen.
[…] nicht das »Ganze«, nicht das »Eine«, nur das Viele, Halbe, das Vereinzelte, das Verdoppelte, das Verwirrte, die Mikroanarchie kann, soll, wird …
Ja, was wohl?
… Jedenfalls nicht im letzten Satz auf die Höhe einer Theorie gehoben oder zu einer tiefen Wahrheit versenkt werden. Oder?25
* * *
Warum ich das erzähle? Weil die so oft als »lässig« und »unakademisch« gefeierte Schreibweise des Buchs „Männerphantasien“ nicht »verstanden« werden möchte als einfach mal »aus dem Ärmel geschüttelt«. Sie ist Resultat der Lebens-Schreib-Fahrt durch die Schichten der beteiligten Jahrzehnte, verbunden mit den Momenten des aktuellen Lebens und der darin wichtigsten Beziehungen. […] Dies ist der politische Kern des Buchs, der haltbarste. Dies und das mag im Einzelnen »überholt« sein. Wirkliche Kunstprodukte beschädigt das nicht.
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Nun nähern wir uns also dem einen Begriff der »Kunstproduktion«. Klaus Theweleit schreibt an späterer Stelle im selben „Nachwort“:

Vor wenigen Tagen, nach Claude Lanzmanns Tod im Juli 2018, erinnert mich Rainer Höltschl an Lanzmanns Aussage, er hätte 11 Jahre an seinem Shoah-Film gearbeitet. Heißt, er hätte damit begonnen 1974/75 – das Jahr, in dem das Schreiben von „Männerphantasien“ in seine intensive Phase eintrat. 1975: das Jahr, in dem Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ in Frankreich erschien. Das Jahr, in dem Pierre Paolo Pasolini seinen Film „Salo oder Die 120 Tage von Sodom“ drehte. Pasolinis Film kam in die deutschen Kinos 1977; als dies Buch gerade den Verlag verließ. […] Alle Autoren haben Bezüge – wenn auch differente – auf das Jahr 1968. Heißt: Mitte der 70er setzten bestimmte neue Formen der Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte der 30er- und 40er-Jahre ein, in deren Hintergrund eine bestimmte Verarbeitung von ’68 im Gange war. Keiner dieser Autoren war Historiker; zwei von ihnen Filmemacher. Aber welcher Art?
Claude Lanzmann hat sich lebenslang gegen die Einstufung seines Films als »Dokumentation« gewehrt. Shoah sei ein Kunstwerk. Trotz seines Stoffes: der Tod in den Gaskammern. […] Pasolini ist Künstler; Züge seines Films, die die faschistische Lust an der Gewalt dokumentieren sollen, sind aber evident. Und Foucault: Zumindest für seine Anhänger ist klar, dass es sich bei ihm weder einfach um einen Philosophen, Soziologen oder besonderen Wissenschaftler handelt, sondern um eine Art Künstler.
Die Werke dieser (und ähnlicher Leute) sind Zwitter. Sie changieren zwischen Wissenschaft, Reportage, Fiktion, Dokumentation, Kunst. Jean-Luc Godard fing Mitte der 60er damit an, für seine Filme die Differenz zwischen Dokumentation und Fiktion abzustreiten. Seine Filme seien beides (und etliches mehr). Mit anderen Worten: Der gängige Realitätsbegriff begann sich zu ändern, und zwar nachhaltig. Niemand mehr heute spricht (im Ernst) von einer »objektiven Realität«. Sehr wohl aber geht es immer noch um zutreffende Ergebnisse; um Ein- und Ansichten, mit denen man arbeiten kann.
Nicht nur das Verhältnis zwischen den »Geschlechtern« hat sich verändert; sondern auch das Verhältnis zwischen den Realitätsformen; so wie das Verhältnis zwischen den Darstellungsformen. Grenzen verschwanden. Reaktionäre aller Art sind heute dabei, sie wieder zu errichten.
27

Inhalt und Gestalt = die „Ge(inh)[st]alt“?

Das ist ja alles schön und gut, werden Sie sagen. Die Form, die Ästhetik, all das, aber worum geht es in dem Buch?

Geduld. Es ist so, dass man das, was gesagt wird, nicht von der Art und Weise, wie es gesagt wird, trennen kann. Das eine geht aus dem anderen hervor, es ist das, was ich die „Ge(inh)[st]alt“ nennen würde (leichter geschrieben als gesagt) …

Ich komme zum Inhalt. Aber ich entschuldige mich schon im Voraus, Sie werden sich ein bisschen anschnallen müssen, denn wir fahren gleich ein paar Gänge hoch.

Also, worum geht es in den „Männerphantasien“?

Der historische Kern des Buches ist ein Typ Mann, der zwischen 1918 und 1923 bei den deutschen Freikorps zu finden ist, grob gesagt zwischen der Abdankung des Kaisers und der Gründung der Weimarer Republik – eine zumindest stürmische Zeit, in der die Sozialdemokraten nach der Niederlage ihre Macht sichern, indem sie sich auf die Freikorps, nationalistische Milizen, stützen, um die im ganzen Land (bis ins Elsass!) aufblühenden Räterepubliken und die Kommunisten zu zerschlagen (Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden Anfang 1919 von Freikorps ermordet).

Die historiografische Originalität des Buches besteht darin, dass Theweleit sich mit dem Korpus der deutschen Protofaschisten selbst auseinandersetzt und sie beim Wort nimmt.

Erste Verschiebung: Es ist die Quelle der Männlichkeit, aus der Theweleit schöpfen wird.

Zweite Verschiebung: Der Begriff »faschistisch« ist nicht so sehr im Sinne einer politischen Doktrin oder Ideologie zu verstehen, sondern als eine Form der »Produktion der Realität«:

Die Produktion dieser Männer28 verfährt gegenteilig [von der Wunschproduktion]. Sie nimmt gesellschaftlichen Produkten, den Menschen wie den Gegenständen, das in sie eingegangene Leben, besonders im Krieg. Ihre Produktionsweise ist die Verwandlung von Lebendigem in Totes, der Abbau von Leben. […] Aus der entlebendigten Realität baut sie ihre neuen Ordnungen.29

Diese »Verwandlung von Lebendigem in Totes« ist nicht weniger Ausdruck eines »Todestriebs«, einer Art negatives Universal der Libido, als vielmehr eine Form der »Antiproduktion«.

Ich öffne hier eine Klammer – mangels einer langen Endnote, wie sie Klaus Theweleit zu Verfügung steht – bezüglich der Frage des Begehrens und insbesondere dessen Definition in Deleuze/Guattaris „Anti-Ödipus“: Das Begehren ist niemals Mangel, sondern Produktion, und der Mangel ist

– durch die Instanz der Anti-Produktion, die sich den Produktivkräften überstülpt und sie aneignet – Gegen-Produkt. Niemals ist [der Mangel] primär; wie auch die Produktion keineswegs in Bezug auf einen vorher existierenden Mangel organisiert wird, dieser aber sich entsprechend der Organisation einer vorgängigen Produktion nachträglich einnistet, vakuolisiert und ausbreitet.30

Ich streife diese Frage nur kurz. Für eine theoretische Klarstellung von Klaus Theweleit verweise ich auf das Kapitel „Zwischenergebnis“31 in „Männerphantasien“.

Die Frage des Faschismus lautet also nicht mehr: Was ist die doktrinäre Grundlage eines autoritären Machtkonzepts, sondern wie kommt es unter bestimmten Bedingungen dazu, dass man den Tod (eines anderen) wünscht. Und dieser Wunsch ist nicht nur das Produkt einer Trieborganisation des Körpers (im Falle des Faschismus in Form eines »Körperpanzers«), sondern formt auch Frauenbilder.

So ist die Frau bei den Freikorps, sofern sie nicht anonym bleibt, entweder »weiß« oder »rot«. Im ersten Fall entspricht sie der reinen, asexuellen, körperlosen Frau aus der Oberschicht; im zweiten Fall ist sie gefährlich, kastrierend, erotomanisch und von niederer Herkunft. Aber diese Spaltung der Frau in der Darstellung des »soldatischen Mann[es]« birgt in Wirklichkeit eine panische Angst vor der Sexualität, die im ersten Fall durch die Entkörperlichung der Frau ausgetrieben und im zweiten Fall mit Waffengewalt bekämpft wird – Handlungen, die, so unterschiedlich sie sein mögen, beide darauf abzielen, den Körper des »soldatischen Mannes« im Inneren wie Äußeren seines Panzers trocken zu halten.

Die Darstellungen der Frau beim »soldatischen Mann« eröffnen eine umfangreiche Bilderwelt, die nicht nur einem bestimmten Typus des wilhelminischen Mannes eigen ist, sondern in unterschiedlichem Maße auch dem europäischen Mann: Hier bewegt sich die Theorie des deutschen Faschismus in Richtung einer umfassenderen Kritik des Patriarchats.

Die Frage lautet also: Warum wird die Sexualität von und in der Frau codiert? Warum wird die Frau zur Verkörperung des Begehrens? Warum wurde das Begehren mit Mangel in Verbindung gebracht? Und wie wird dieser Mangel gestaltet? An diesem Punkt angelangt (der ungefähr dem Ende des ersten Kapitels entspricht), erforscht Klaus Theweleit die Geschichte der weiblichen Repräsentation seit dem späten Mittelalter (Kapitel II: „Fluten Körper Geschichte“), um einerseits der Quelle der Dichotomie zwischen hohen und niedrigen Frauen nachzugehen und andererseits den Zivilisationsprozess zu entschlüsseln, aus dem das bürgerliche Subjekt hervorgegangen ist – ein Prozess, der zur »Negativierung« der Flüsse und zur »Reterritorialisierung« der Körper geführt hat, wobei »Negativierung« und »Reterritorialisierung« in der Bildung des »Körperpanzers« des Soldatischen Mannes gipfelten.

Dies sagt Klaus Theweleit über die Codierung des Begehrens durch die Frau und die Dichotomie hohe/niedrige Frau, anhand insbesondere der europäischen Literatur:

Ich denke, die Frauen wurden nicht nur in dieser direkten Weise ausgebeutet und unterworfen; sie wurden zu Schlimmerem gebraucht, nämlich selber als ein Absorptionsfaktor zu dienen, und zwar als ein Absorptionsfaktor der Produktivkraft der Männer der jeweils beherrschten Klassen zu Gunsten der Herrschenden. […] In der gesamten europäischen oder europäisch beeinflussten Literatur fließt der Wunsch, so er überhaupt fließt, in einer bestimmten Weise durch die Frau, fließt er in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit dem Bild der Frau. […]
[A]ls selber absorbierende Kraft, ist sie einer der zentralen Stoffe, wahrscheinlich sogar der Hauptstoff dieser Literatur. Zu Recht spricht man von einer Geschichte des Frauen-Bildes in der europäischen Literatur und einer Geschichte der Männer, die es machten. Dieses Bild lebt irgendwie im Wasser; sehen wir,
wie es dort fließt.32

Sie sehen, wir bleiben im Element des Wassers, des „Trockenen und des Feuchten“, um den Titel von Jonathan Littells Studie über den belgischen Faschisten Léon Degrelle aufzugreifen.

Aber zurück zum Thema: Das Bild der Frau steht für den Mangel, der, einem weiteren Paradoxon folgend, das gesamte Gebäude der patriarchalischen Herrschaft aufrechterhält:

Solange hinter der Frau, mit der der beherrschte Mann meist schläft, solange hinter allen Frauen, die ihm normalerweise erreichbar sind, das Bild einer anderen, »höheren« schwebt, solange die Frau fürchtet, dass er sie wegen dieser verlassen oder betrügen wird, weil sie geringer ist als jene, solange brauchen die Herrschenden nichts zu fürchten, das ist Öl für die vom Mangel in der Beziehung der potentiell Gleichen gespeisten Repressionsapparate. Der Mangel erhält das System, ihn gilt es, immer neu zu erzeugen, damit Gleiche nicht zu Gleichen kommen können.33

Ein schönes Stück Neuinterpretation der europäischen Literatur (allein das schon!) aus der Genderperspektive. Und das in den späten 70er Jahren. Es dauerte fast 40 Jahre, bis das Buch in Frankreich übersetzt wurde. Ein Verdacht auf »Cancel Culture« avant la lettre im Land der Galanterie und der »Freiheit, aufdringlich zu sein«? …

Coda: Ein ghost-modernes Werk

Natürlich ist der soldatische Mann nicht die Norm. Er ist jedoch auch nicht die Ausnahme. Er wird unter bestimmten Bedingungen zur Norm. Der Beweis: Da diese Art von Mann nicht der Vergangenheit angehört, spukt er in unserer Gegenwart herum, er ist der Geist, das Gespenst, das »Das« der »Bestie«, für die unsere Moderne noch fruchtbar ist.

Und wenn es ein Epos geben soll, dann ist er dessen ghost-moderner Held.

In einem Buch, 2015 erschienen unter dem Titel „Das Lachen der Täter“ (und 2019 ins Französische übersetzt), wendet Klaus Theweleit seine Analyse des soldatischen Mannes auf die Kämpfer von DAESH an, die deutschen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, die amerikanischen Folterer in Abu Ghraib, auf die Kommunistenmörder im Indonesien von Sohearto (verfilmt von Joshua Oppenheimer in „The Act of Killing“), auf die von Rithy Panh beschriebene Todesmaschinerie der Roten Khmer, auf Kindersoldaten in Afrika, aber auch und vor allem auf den sogenannten lone wolf, dessen Verkörperung Anders Behring Breivik ist. Kurz gesagt, das tödliche Business des soldatischen Mannes kennt keine Krise. Ich zitiere aus einer langen Endnote aus „Das Lachen der Täter“:

Schon 1977/78 hat Pier Paolo Pasolini in seinem Film „Saló, oder die 120 Tage von Sodom“ eine Linie der lachenden Folterer gezogen vom alttestamentarischen Sodom über Dantes »Höllenkreise« bis zum Feudaladel, dem Klerus und der Justiz des Ancien Régime, wie der Marquis de Sade sie beschreibt in seinem „120 Tage von Sodom“-Roman. Eine Linie, die weiter reicht über die europäischen Kolonialismen des 19. Jahrhunderts zu Mussolini in Saló und bis zu den deutschen KZs; darüber hinaus zu den Kolonialpraktiken moderner neokapitalistischer Demokratien. […]
Diese [Gesellschaften] haben es geschafft, einen Menschentyp, vorwiegend Männertyp, zu erzeugen (durch Nichtachtung, Drill, Prügel, Vernichtungsdrohungen aller Sorten, durchmischt mit der gleichzeitigen Versicherung, zur »höheren Rasse, höheren Religion« und zum »höheren Geschlecht« zu gehören), Manns-Körper-Typ, dem es nicht gelingt, seine körperlichen Lustvorgänge von Formen zerstörerischer Gewaltausübung zu trennen. Seine »Lüste« bestehen in einer Verkehrung sexueller Genüsse in Gewaltvorgänge; in der Unmöglichkeit, Sexualität anders zu erleben denn als Gewalt, und dies bevorzugt in den Formen inszenierten ritualisierten sexualisierten Tötens.
Jeder des anderen Insekt.34

Puh … [Pause].

Nun, es fing stark an, fröhlich, voller Leben; und dann enden wir mit der Internationale der Täter… Klaus Theweleits Produktion liegt zwischen diesen beiden Polen. Er ist vielleicht dieser Historiker, den Walter Benjamin aufruft und dessen Blick die »Schönheit noch in der tiefsten Entstellung sieht«, derjenige, der sich nicht darauf beschränkt, das zu kennen, was man vernichten will, »man muss es, um ganze Arbeit zu leisten, gefühlt haben«.35

Zum Schluss – oder eher als Coda – ein Abschnitt aus dem „Vorwort 2020“ des ersten Bandes von PO CA HON TAS, den ich gerade übersetze. Er entwirft das Gerüst für diese ungewöhnliche Tetralogie und bietet viele Anknüpfungspunkte für all das, was ich soeben ausgeführt habe, indem er es auf den Kolonialismus und unsere Gründungsmythen ausdehnt. Der sog. »Psycho-Mytho-Historien-Epos«, von dem Sigrid Löffler sprach und der 1977 mit „Männerphantasien“ seinen Anfang nahm, ist noch nicht zu Ende.36

Hier ein Auszug aus dem Vorwort (ich kenne einige hierzulande, die »Cancel Culture« schreien werden, wenn nicht sogar »Islam-Linke«):

[…]
»
Am Anfang war die Einwanderung« gehört über viele Anfänge; z. B. den unserer (neueren) Kultur: das Eindringen indogermanischer Wanderhorden um 2000 v.u.Z. in jene Gegenden, die heute als Griechenland die Landkarten schmücken. Dort, durch Vermischung mit den schon Anwesenden, wurden im Lauf der Zeit die »antiken Griechen « draus, die Viele so gern feiern als »unsere« kulturellen Ahnen.
[…]
Am Anfang war die Einwanderung ist somit auch Zentralsatz aller Kolonisierung: Es kommen welche dahin, wo andere schon sind. Diese Anderen, die sog. Einheimischen – meist sind sie selber vormals Eingewanderte – wollen, sollte es bald eng werden, da nicht weg; freiwillig jedenfalls nicht. Das ergibt Zoff.
Einwanderung ist dann nicht mehr das angebrachte Wort. Die neu Ankommenden sind manchmal die Stärkeren. Meist dank überlegenen technologischen Equipments, seien es Pferdewagen, seien es Schiffe, sei es das Maxim-Maschinengewehr; oder sie strömen ein in einer Anzahl, die die der Ansässigen weit übersteigt. Oder sie können lesen, und die, die da sind, nicht. Und dies ist dann die überlegene Technologie.
Die der Einwanderung – in diesen Fällen:
Eroberung – folgende Vermischung braucht dann ebenfalls einen anderen Namen. Die Frauen der frisch Eroberten stellen sich in der Regel nicht aus freien Stücken den Körpern der neuen Herrscher-Herren zur Verfügung. Historisch entstehen neue Bevölkerungsmischungen oft aus Vergewaltigungen. Dem Eroberungsverfahren Jener, die bleiben wollen.
Am Anfang war #MeToo.
[…]
Am Anfang allen
Berichtens, das Wirklichkeiten wiedergeben will, müsste also stehen: #MeToo. Steht da aber nicht.
Wir kennen eine Menge verschiedenster Darstellungen historischer Abläufe. Mit
#MeToo beginnen sie alle nicht. In der Kultur jener Eroberer z. B., die die Americas nach 1492 besiedeln, gibt es eine riesenhafte, nie endenwollende Schleife von Rettungs- und Liebeserzählungen: die junge Rothaut Pocahontas rettet dem Anführer der Kolonisten das Leben; sie verliebt sich in die Weiß-heit der Engländer. Um einen von diesen heiraten zu können, lässt sie sich christlich-anglikanisch taufen, auf den biblischen Namen Rebecca. Sie bringt einen Sohn zur Welt, der auf den biblischen Namen Thomas getauft wird; besucht London, stirbt aber leider dort, nach The Lords unergründlichem Ratschluß an den Blattern oder einer anderen (gottgesandten) Krankheit, die mit roten Häuten nicht kompatibel ist. Später ergibt sich aus all dem der USamerikanische Bible Belt (ohne Rothäute und andere Kommunisten).
Glauben Sie das? – So jedenfalls wird es überwiegend erzählt in einer Reihe von Varianten in allen Sorten Medien bis heute; bis hin zu Neil Young und den Disney Productions.
37
[…]
Bd. II,
CA, Buch der Königstöchter, untersucht die entsprechenden Vorgänge um das Jahr 2000 v.u.Z. Ein unterdrücktes #MeToo singt es aus ebenfalls endlosen Varianten dessen, was heute unter dem Label »griechische Mythologie« in den literarischen und philosophischen Lexika, in den Theater- und Opernführern, den Kunstbänden des griechischen Statuenwesens, der Säulenarchitektur und der Renaissancemalerei versammelt ist. In dieser »Mythologie« werden, unter vielen anderen Frauen, auch ca. 30 Königstöchter der prä-griechischen Gebiete von einreitenden Eroberern vergewaltigt. Die nachfolgende griechische Erzählung macht aus den Vergewaltigern der Königstöchter begehrende Götter. Es sind Zeus, Poseidon und Apoll (ein bißchen auch Dionysos), die die Königstöchter schwängern; mit wunderbarem Resultat: Alle halbgöttlichen Heroen des frühen Griechenlands, von Theseus über Perseus zu Herakles etc. sind Kinder solcher Verbindungen; also das Kernpersonal der sog. griechischen Mythologie; die sich enthüllt als besonders raffinierte Form entstellender Geschichtsschreibung.
Was also war
am Anfang »unserer Kultur«? An den Anfängen unserer Kolonialismen?
U.a. stellt sich darin die Frage, wie die Häuptlingstochter Pocahontas, die den weißen Pflanzer (Tabak) heiratet, wie die kolchische Königstochter Medea, die dem Griechen Jason zum
Goldenen Vließ verhilft, wie die mexikanische Malinche, die zur spanischen Dona Marina wird, die dem Hernan Cortéz seinen Feldzug dolmetscht, wie die vielen anderen Frauen, die sich mit dem Kolonisator einließen oder einlassen mussten, zu betrachten seien: Kollaborateurinnen? (Was ihnen ja gern vorgeworfen wird). Im Mexikanischen z.B. ist Malinchismo bis heute das Schimpfwort für Menschen, die die »eigene Kultur verraten«. Das ist leichter als zu schreiben: #MeToo. Die Männer aller Erobererkulturen wollen es nicht gewesen sein, bis heute, beim Zeus nicht und nicht bei allen andern Donnergöttern.
[…]
Band 3, HON,
Warum Cortéz wirklich siegte, untersucht die Verfahren, mit denen spezifische Bevölkerungen der eurasiatischen Gebiete – nach 1500 erweitert durch die kolonisierten Americas – den seebefahrenen Globus sich zum Untertan machten. Es sind technologische Verfahren, von 12000 v.u.Z. an, von Haustierdomestikation über Metallschmelze, Bergbau, Schiffbau zum phonetischen Alphabet, über Geometrisierung und Mathematisierung der geographischen Welt, ihre Kartographierung nach Längen und Breiten, über Zentralperspektive, Mikroskop und Physik des Atoms, über die chemische Segmentierung der Welt in Elemente und Periodensystem, über die Segmentierung und Sequenzierung der industriellen Arbeitsschritte durch Taylor, über die Bakteriologie, die realitätszerlegenden Aufzeichnungstechniken Film und Grammophon bis hin zum Computer, den Endlossequenzen der Digitalisierung; Kulturtechniken, die ihre Grundverfahren von Segmentierung, Sequenzierung und Konzeptualisierung immer weiter treiben in den Verfahren von Miniaturisierung (Nanotechnologie) und Erhöhung der Geschwindigkeiten (Teilchenbeschleuniger CERN) sowie der praktischen Anwendung ihrer immer länger werdenden und ins Undenkbare führenden Segmentketten. Es ist der homo technologicus, der technifizierte Mensch, der die Welt mit seinen Verfahren in immer erneuerten Synapsenverschaltungen des Hirns übernimmt und immer neu aufbaut, – »kolonisiert« – nicht einfach der »besser Bewaffnete«. Es sind wir mit unserem technologisch fundierten »Segment-Ich«, die diese Verfahren tragen. HON entwickelt, was dieses »Segment-Ich« vom Freudschen »Ego« und der philosophischen Konstruktion des »Subjekts« unterscheidet.
Band 4, TAS, You Give Me Fever. Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas. Die Sexualität schreiben nach Weltkrieg zwei, verzweigt all dieses noch ganz anders. Der Band ist eine literarische Wildwasserfahrt durch norddeutsche Binnengewässer und Bibliotheksflure, welche die amerikanischen Gewässer des Sees Otsego mit dem niedersächsischen Binnensee Dümmer verbindet, in den ein Flüßchen Namens Hunte fließt; ein Wort, in dem der »Landvermesser« Schmidt, am See unterwegs auf Frauensuche mit seinem Kumpel Erich, den Namen Pocahuntas […] erspürt […]. An, auf und in diesem See dann die sexuellen Eskapaden der beiden Sex-Trapper mit zwei Fabrik-Indianerinnen aus der norddeutschen Tiefebene, deren eine auf den Namen »Pocahontas« getauft wird. Die Erzählung quillt über von lauter Rettungen – einschließlich der einer Hummel aus dem Dümmerwasser. Gerettet werden aber soll, vor allem, das verzweigte Spiel literarischer Kombinatorik und der Wunsch nach einer Sexualität ohne Gewalt; also die körperliche Lust aller Beteiligten.
»Alles« kreist dabei um ein kleines »a«, das Schmidt der Pocahuntas in den Namen einfügt: Pocahauntas = Poca haunt us; Schmidt somit als Mitbegründer der Disziplin der
Hauntology (= Geisterbeschwörung literarisch artistisch); kundig jener Dinge, die nicht aufhören, uns zu erregen/verfolgen/verstören in ihrer unabweisbaren, immer noch wachsenden Geisterhaftigkeit. Surprise in jedem Absatz.
[…]
1957, zum 350. Jahrestag der Jamestown-Gründung, fügte Peggy Lee dem Fever-Song von Little Willie John die Strophe mit der
very mad affair hinzu, die »Captain Smith and Pocahontas« dort gehabt haben sollten. Wenn man das mad darin betont, lag sie nicht ganz falsch.
Lüge, Betrug, Landraub via Königstöchter, Morde – statt Love affair.
Die findet sich bei Schmidt. Und dazu auch die Strophe bei Peggy Lee, die das nicht dementiert:
Fever till you sizzle
What a lovely way
To burn.
38

Note de fin

1 Klaus Theweleit, Männerphantasien, „Nachwort“, Berlin, Matthes & Seitz, 2019, S. 1209-1278.

2 Bruno Tackels, „Walter Benjamin, lecteur absolu“, Revue de la BnF, Nr. 41, 2012/2, S. 5-10.

3 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, Gesammelte Schriften, Bd. I-2, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 696.

4 Klaus Theweleit, Männerphantasien, a.a.O., „Nachwort“, S. 1276f.

5 Jonathan Littell, Das Trockene und das Feuchte. Ein kurzer Einfall in faschistisches Gelände, Berlin, Berlin Verlag, 2008.

6 Dieser Beitrag war ursprünglich ein mündlich übermittelter Vortrag für das Seminar „Gender und Sexualität“. In diesem Sinne wurde er auch geschrieben. Er vollzieht somit eine gerechte Umkehrung der Dinge, indem er zum geschriebenen Wort und zur Oberfläche des Blattes (und dessen Geografie mit seinen Rändern, Endnoten und Endnotenzeichen) zurückkehrt [Anm. d. Ü./V. = Anmerkung des Selbstübersetzers].

7 Es handelt sich um das Umschlagbild der originalen Ausgabe (abgebildet gegenüber dem Inhaltverzeichnis in der Neuausgabe von 2019), auf dem ein Zug zu sehen ist, der bei Flut über den Hindenburgdamm fährt, der Sylt mit dem deutschen »Festland« verbindet [Anm. d. Ü./V.].

8 Klaus Theweleit, Männerphantasien, a.a.O., „Vorbemerkung“, S. 9-10.

9 Ebda., „Ströme“, S. 316-317.

10 Ebda., S. 333.

11 Sigfrid Löffler, „Laudatio für den Adorno-Preisträger Klaus Theweleit am Samstag, den 11. September 2021, in der Frankfurter Paulskirche“, unveröffentlicht. Klaus Theweleit hat sie mir weitergeleitet [Anm. d. V./Ü.].

12 Klaus Theweleit, Absolete(ly) Sigmund Freud Songbook, Freiburg-im-Breisgau, Orange Press, 2006, S. 58.

13 Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, GW VIII, S. 207.

14 Edmundo Gómez Mango, „Freud et la fiction“, Annuel de l’APF, 2011/1, S. 109-118.

15 Hintergrund: Klaus Theweleit erwähnte zuvor den Preisträger von 1976, Peter Rühmkorf, einem Dichter, der für seine Arbeit als Kritiker ausgezeichnet wurde und daraufhin ankündigte, er wolle das Preisgeld seiner Dichter-Partialität zukommen lassen [Anm. d. V./Ü.].

16 Ein weiterer, bis heute unvollendeter Buchzyklus über den Orpheus-Mythos, den Künstler, die Frauen und die Macht [Anm. d. V./Ü.].

17 2. Bd der Reihe „Buch der Könige“, (noch) nicht ins Französische übersetzt, selbst in 2 Bd. unterteilt... [Anm. d. V./Ü.].

18 Klaus Theweleit, Friendly fire. Deadline-TEXTE, Frankfurt-am-Main, Stroemfeld Verlag, 2005, S. 382-384.

19 Klaus Theweleit, „Über Exile. Dankrede zur Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am 11. September 2021“, https://literaturkritik.de/klaus-theweleit-ueber-exile-dankrede-zur-verleihung-theodor-w-adorno-preises-stadt-frankfurt-am-11-september-2021,28256.html (letzter Zugriff 25.8.2022).

20 Rudolf Augstein, „Frauen fließen, Männer schießen“, Der Spiegel, Nr. 52/1977, S. 132-141.

21 Ein Teil der Stellungnahme von Prof. Dr. Gerhard Kaiser wird (gegenüber einem Auszug aus dem Artikel von Augstein) wiedergegeben in Klaus Theweleit, „Alles muß man so machen, daß jeder, der es sieht, ausrufen kann, das kann ich auch. Alles muß man so machen, daß jeder, der es sieht, ausrufen kann, das nicht“, Die Republik, Nr. 18-26, 30. April 1978, S. 464-603, S. 466f.

22 Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. 2, „Die neuen Seiten“, 2000, S. 483.

23 Klaus Theweleit, Männerphantasien, Berlin, Matthes & Seitz, 2019, S. 1216.

24 Gespräch mit Gisela Stelly Augstein von Philipp Goll, „Das Buch heisst Männerphantasien und es ruft ja geradezu danach, dass eine Frau darüber schreibt“, https://www.merkur-zeitschrift.de/2022/02/07/das-buch-heisst-maennerphantasien-und-es-ruft-ja-geradezu-danach-dass-eine-frau-darueber-schreibt/ (letzter Zugriff 26.8.2022).

25 Klaus Theweleit, Männerphantasien, a.a.O., 2019, S. 1002.

26 Ebda., S. 1216f.

27 Ebda., S. 1227f.

28 Der Faschisten oder »soldatischen Männer« also, wie Klaus Theweleit sie nennt, s. ebda., S. 42 [Anm. d. V./Ü.].

29 Der Faschisten oder »soldatischen Männer« also, wie Klaus Theweleit sie nennt, s. ebda., S. 42 [Anm. d. V./Ü.].

30 Anti-Ödipus, S. 36.

31 Männerphantasien, a.a.O., 2019, S. 248ff.

32 Männerphantasien, a.a.O., 2019, S. 336f.

33 Ebda., S. 456.

34 Das Lachen der Täter: Breivik u. a. Psychogramm der Tötungslust, St. Pölten, Salzburg, Wien, Residenz Verlag, 2015, S. 241.

35 Benjamin, „Ein Jakobiner von heute“, Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1991, S. 265.

36 Klaus Theweleit arbeitet gerade an einem Buch über die Erfindung des griechischen Vokalalphabets auf See, und ich kann Ihnen sagen, nachdem ich eine erste Version gelesen habe, dass er die angeblich griechischen Ursprünge unserer real existierenden westlichen Zivilisation in der Luft zerreißt und nebenbei Heidegger und den späten Kittler ankratzt [Anm. d. V./Ü.].

37 All das nur für Bd. I, „Pocahontas in Wonderland. Shakespeare on Tour“, der, wenn alles gut geht, Ende 2023 in Frankreich erscheinen soll [Anm. d. V./Ü.].

38 Klaus Theweleit, Pocahontas I. Pocahontas in Wonderland. Shakespeare on Tour. Indian Song, Berlin, Matthes & Seitz, 2020 [2000], S. 5ff.

Citer cet article

Référence électronique

Christophe Lucchese, « « Klaus Theweleits Männerphantasien zwischen ‘Theorieabenteuerroman’ und ghost-modernem Epos », autotraduction de l’auteur en allemand et révision par Hilda Inderwildi », La main de Thôt [En ligne], 10 | 2022, mis en ligne le 20 mars 2023, consulté le 28 mars 2024. URL : http://interfas.univ-tlse2.fr/lamaindethot/1126

Auteur

Christophe Lucchese

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